Interview: „Shaqiri hat seine Bildli lieber selber behalten.“

Wahre Hingucker: Sticker aus den letzten beiden tschutti heftli (Quelle: tschutti heftli)Vor zehn Jahren startete eine Handvoll Fußballenthusiasten in der Schweiz eine grandiose Aktion. Zur Heim-EM brachten sie ein Sammelalbum heraus, in dem die Spieler der Teilnehmernationen von Künstlern gezeichnet, illustriert und gemalt worden waren. Zehn Jahre später erscheint das tschutti heftli (vom schweizerdeutschen tschutten = kicken) im Vorfeld der WM in Russland zum sechsten Mal. Grafiker, Illustrator und FC Luzern-Fan Silvan (41) zählte 2008 noch selbst zu den Gestaltern der Sticker, inzwischen ist er Projektleiter des Albums, das auch in Deutschland erhältlich ist. Ein Gespräch über die Initialzündung des tschutti heftli, denkwürdige Teamdarstellungen, das kommende Sammelheft und den Status eines WM-Neulings unter den Künstlern.

Silvan, was war da vor zehn Jahren los, als zur Europameisterschaft im eigenen Land die Idee entstand, mit einem Sammelalbum an den Start zu gehen?
Wir hatten das Gefühl, dass es sich bei der Europameisterschaft hauptsächlich ums Geld dreht. Es ging darum, wo welches Bier ausgeschenkt werden darf, welcher Sponsor wo präsent sein darf und dann wurde auch noch das geplante kulturelle Rahmenprogramm gestrichen. Da mussten wir einfach handeln.

Umso mehr, als ihr zu dem Zeitpunkt schon mit einem Fußballmagazin am Start gewesen seid.
Genau. Damals gaben fünf Freunde und ich das inzwischen eingestellte Magazin tschutti heftli heraus. Es erschien dreimal im Jahr und wir verknüpften in unseren Geschichten Fußball und Kultur. Beide gehörten und gehören für uns zusammen und beide sind uns wichtig. Das sahen wir bei der Heim-EM nicht in befriedigendem Maße gewürdigt. Wir haben uns also überlegt, dass wir mit unserem Sammelband einen kleinen kulturellen und leidenschaftlichen Beitrag zur Europameisterschaft leisten wollen. So war das heftli unsere künstlerische Antwort auf die Panini-Sammelbilder und auf die voranschreitende Kommerzialisierung, und das ist es bis heute.

Hat sich Panini eigentlich schon bei euch gemeldet?
Bisher zum Glück nicht. Für Panini sind wir wohl ein zu kleiner Fisch, als dass sie sich um uns kümmern. Unsere gesamte Auflage verkauft Panini wahrscheinlich in den ersten zehn Minuten nach ihrem Release.

Impressionen aus den letzten beiden Sammelalben (Mit freundlicher Genemigung von tschutti heftli)

Der charmante Clou eures Sammelbandes ist bis heute, dass die Spieler der teilnehmenden Teams künstlerisch dargestellt werden. Wie kam es zu der Idee?
Da ich selber Illustrator bin und unser Magazin oft mit Illustrationen arbeitete, lag die Idee von den gezeichneten Spielern auf der Hand. Für uns war das Ganze zunächst einmal ein lokal auf Luzern und Zürich begrenztes Projekt. Die ursprüngliche Auflage umfasste denn auch gerade einmal 500 Alben. Die Tütchen verpackten wir mit vielen Freunden und Bekannten noch per Hand. Die Sticker haben wir über unsere Webseite vertrieben und in unseren Stammkneipen in Luzern und Zürich verkauft.

Und dort habt ihr mit eurer Idee offene Türen eingerannt.
Absolut. Wir haben einen Nerv getroffen, das war im Kneipenverkauf sofort zu spüren. Dann sind die Medien auf unsere Aktion aufmerksam geworden. So meldeten sich immer mehr Verkaufsstellen in der ganzen Schweiz, die unsere Sticker verkaufen wollten. Schon nach wenigen Wochen mussten wir nachproduzieren. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Alben wir im Endeffekt gemacht haben. Vielleicht so um die 1.500. Von den Stickern haben wir letztlich für uns unglaubliche 500.000 verkauft.

Nach dem überraschenden Erfolg blieb euch nichts anderes übrig, als weiterzumachen.
Das kann man wohl sagen. Wir wurden von vielen Seiten ermutigt, das Projekt zur WM 2010 zu wiederholen. So fiel uns der Entschluss leicht, den Sammelband fortzusetzen.

Wie hat sich die Geschichte in den letzten Jahren weiterentwickelt?
Wir haben seither zu jeder WM und EM ein neues Heft gemacht. 2010 begannen wir schon in Deutschland Fuß zu fassen und seit 2016 sind wir auch in Österreich erhältlich.  Unsere Verkaufszahlen entwickelten sich immer weiter, außer zur EURO 2012, was an der Nichtqualifikation der Schweiz für die damalige EURO liegen mag. Zur WM 2014 verkauften wir 2,5 Millionen Sticker, bislang unser Bestwert.

Künstlerische Freiheit wird im tschutti heftli groß geschrieben. (Mit freundlicher Genemigung von tschutti heftli)

Zur WM in Russland erscheint das tschutti heftli zum sechsten Mal. Mit wie vielen Leuten stemmt ihr eigentlich die ganze Aufgabe?
Wir sind heute zu elft. Sechs sind operativ tätig sind, der Rest bringt sich strategisch in unserem Vereinsvorstand ein. Wir alle arbeiten nach wie vor ehrenamtlich, bis auf eine 20-prozentige Stelle, die ich als Projektleiter einnehme.

Ein Teil eures Erlöses geht an einen guten Zweck. Stand der Gedanke von Anfang an fest?
Ganz ehrlich. Zuerst ging es uns darum, die Kosten für die Produktion decken zu können. Mit dem zweiten Album zur WM 2010 haben wir dann beschlossen, dass wir einen Teil des Erlöses an soziale Projekte spenden. Heute gehen zehn Rappen (derzeit rund 9 Cent) pro verkaufte Stickertüte an das Kinderhilfswerk Terre des hommes. Mit dem Rest der Einnahmen decken wir die Produktionskosten für das Heft und die Sticker, die wir inzwischen in Italien herstellen lassen. Daneben erhalten alle Künstler und Künstlerinnen eine Entschädigung von 500 Euro. Der Rest dient als Reserve zur Finanzierung des nächsten Hefts.

Du hast vorhin gesagt, ihr seid auch in Deutschland und Österreich erhältlich. War das kein Risiko?
Schon 2008 gab es in Deutschland erste Medienberichte über uns und  sofort erste Kunden. Das Risiko war deshalb überschaubar. Zudem hatten wir konkrete Anfragen von Vertriebspartnern. Dasselbe galt spätestens 2016 auch für Österreich. Gepaart mit der EM-Qualifikation der österreichischen Nationalmannschaft  erschien es uns ein passender Moment, dorthin zu expandieren. Zudem haben wir mit der gemeinnützigen Institution Job-TransFair einen tollen Partner für Österreich gefunden.

Welches Image habt ihr inzwischen erlangt?
Ich denke in unserer Zielgruppe werden wir als fester Bestandteil der großen Turniere wahrgenommen. Zudem ist es uns – so glaube ich – gelungen, durch ausschließlich organisches Wachstum unserer anfänglichen Philosophie treu zu bleiben. Wir konnten den Charme unserer Alben erhalten und sind nicht in eine kommerzielle Richtung abgedriftet. Und darauf sind wir wirklich stolz. Wir wollen einen künstlerischen Beitrag zur Fußballkultur leisten, jenseits von Mainstream und Kommerz. Ich bin überzeugt, dass uns dies gelungen ist. Wir konnten die künstlerische Qualität unseres heftli hoch halten oder gar steigern. Das hat dazu beigetragen, dass wir auch in Gestalterkreisen, die oft eher fußballfern sind, einen guten Ruf genießen.

Wie steht der Schweizer Verband zum heftli?
Er hat uns einmal untersagt, auf dem Trainingsplatz der Nati mit der Videokamera auf die Spieler zuzugehen, um sie zu ihren gezeichneten Portraits zu befragen. Ansonsten unterstützt er uns aber gerne. Etwa als er die Sticker durch alle Spieler der Nati unterschrieben lies und an uns zurückschickte. Es haben denn auch alle mitgemacht, außer Xherdan Shaqiri, der hat seine Bildli lieber selber behalten. 🙂

Inzwischen ruft ihr einen Wettbewerb aus, zu dem Künstler ihre Entwürfe einreichen können. Woher kamen die Einreichungen für die anstehende WM und wie viele waren es?
Beim jüngsten Wettbewerb hatten wir über 500 Teilnehmende aus 60 Ländern. Darunter waren etablierte Gestalterinnen und Comiczeichner, aber auch Hobby-Künstler und Teenager. Die meisten Einsendungen kamen aus der Schweiz und Deutschland. Danach folgten Russland und der Iran. Wir hatten aber auch Beiträge aus Malaysia, USA, China und Syrien. Sie alle hatten die Aufgabe Diego Armando Maradona darzustellen und es gab wirklich eine unglaubliche Bandbreite an Entwürfen.

Siegerentwürfe I: In diesem Stil wird je ein WM-Team gestaltet werden. (Mit freundlicher Genemigung von tschutti heftli)

Wie erfolgt die Auswahl der Künstler?
Wir haben eine Jury gewinnen können, die aus zehn Mitgliedern bestand. Zu ihnen zählten Nadya Tolokonnikova von den Pussy Riots, der ehemalige US-Nationalspieler Alexi Lalas, unsere Schweizer Nationalspielerin Ramona Bachmann und der russische Illustrator Victor Melamed, der schon für den „Rolling Stone“ und den „New Yorker“ gearbeitet hat. Jeder unserer Juroren bestimmt seinen persönlichen Sieger, der damit sicher im Album dabei ist. Daneben erstellt jeder eine Shortlist aus fünf weiteren Arbeiten, die ihm gefallen haben. Aus diesen 50 wählen wir dann intern eine stilistisch möglichst breite Auswahl der restlichen 22 KünstlerInnen. Vier der 32 Künstler kommen in diesem Jahr übrigens aus Deutschland.

Siegerentwürfe II: Eine Legende unterschiedlich interpretiert. (Mit freundlicher Genemigung von tschutti heftli)

Wie legt ihr fest, welcher Künstler welche Teams übernimmt?
Jeder Künstler reicht eine Liste mit seinen fünf Favoriten ein. Wir versuchen dann die Teams so zu vergeben, dass möglichst jeder auch einen seiner fünf Favoriten bekommt. Leider hat das diesmal nicht ganz geklappt und wir mussten am Schluss auslosen.

Das heißt die großen Nationen sind begehrt und die Exoten weniger?
Das stimmt. Die Teams, bei denen die Stars mitspielen, sind grundsätzlich beliebt. Also Deutschland, Spanien, Argentinien. Panama und Costa Rica wurden hingegen gar nicht gewählt.

Du sprachst die Stars an. Die sind natürlich gesetzt. Aber nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der restlichen Spieler? Man weiß ja nie genau, wer letztlich nominiert wird.
Das ist wirklich ein sehr schwieriger Teil, da wir ja im Gegensatz zum Beispiel zu Panini nur elf Spieler nominieren. Wir haben zum Glück im Team ein paar Experten und Fußballtheoretiker, die das sehr gut machen. Natürlich fehlt ab und zu ein Spieler, der sich im Turnier zum Star entwickelt, wie zum Beispiel Mario Balotelli 2012. Manchmal treffen wir aber auch voll ins Schwarze. So stimmte 2014 die Startaufstellung der Brasilianer 1:1 mit unserer Auswahl im Heft überein.

Bis wann müssen die Spielerporträts für das kommende Heft eingehen und wie geht es dann weiter?
Die Bilder müssen bis Ende Januar 2018 bei uns sein. Danach gehen sie ins Layout, der Druck läuft Mitte Februar an. Zum Verkaufsstart kommt es dann am 6. April 2018 im Rahmen einer großen Releaseparty im Neubad in Luzern.

Was waren für dich bislang die künstlerischen Highlights im tschutti heftli?
Das ist eine Frage, die uns wirklich häufig gestellt wird und sie zu beantworten, fällt mir immer extrem schwer. Ich kann da nicht eine Arbeit oder einen Künstler hervorheben. Es ist vielmehr die unglaubliche Vielfalt, die die Illustrationen bieten. Es gibt so viele großartige Illustratorinnen und Illustratoren und jedes Jahr finden sich wieder überraschende, neue Umsetzungen. Das ist einfach überwältigend!

Aus den frühen Heftchen: Spieler aus Marzipan, auf Eiern & als Puppe (Mit freundlicher Genemigung von tschutti heftli)

Das stimmt. Mir sind von der letzten WM die gekneteten Italiener und die genähten Griechen in Erinnerung.
Ja, wir hatten aber auch schon die Tschechen aus Marzipan, die Serben als Handpuppen und dann halt alle möglichen traditionellen Stile wie Malerei, Zeichnungen, Computergrafiken und Linoldruck. Im neuen Album wird es auch eine 3D-Grafik und ein Team aus Bügelperlen geben. Eine Mannschaft wird aus den Linien eines Fußballfeldes dargestellt. Wir überlegen schon, wie es uns gelingt, einen Spieler nach diesem Prinzip ganz real auf dem Rasen eines Fußballstadions umzusetzen.

Fieberst Du in der Quali eigentlich mit, dass ganz bestimmte Teams sich qualifizieren sollen, oder spielt das überhaupt keine Rolle, da ohnehin die Kunst im Vordergrund steht?
Natürlich fiebern wir als Schweizer aus Fangründen mit der Nati mit. Und natürlich macht die Aktion mehr Spaß und auch der Absatz der Sticker ist besser, wenn sich die Länder, in denen wir die Bildli verkaufen, dabei sind. Deutschland ist da ja grundsätzlich gesetzt. Das war jedenfalls bis jetzt so. Aber man weiß ja nie, siehe Italien. Schade ist es, dass Österreich es nicht geschafft hat, auch weil unsere Freunde von Job-TransFair natürlich traurig waren. Und die Italiener fehlen auch, irgendwie. Eine WM ohne Italien kann man sich nicht wirklich vorstellen, zumindest bis jetzt…

Auf was freust Du dich im kommenden Heft am meisten?
Neben den neuen tollen Illustrationen werden wir mit einer Neuheit aufwarten können. Wir haben 48 Grafikdesigner engagiert, die für alle 48 Vorrundenspiele ein sogenanntes Matchday Poster –also ein Plakat für dieses Spiel – machen werden. Diese Plakate kommen auch als Sticker ins Heft und stellen so einen großartigen grafischen Spielplan dar. Sie öffnen das Projekt zugleich in eine neue Richtung, die des Grafikdesigns. Wir werden in Zusammenarbeit mit dem Plakatfestival Weltformat die Plakate in Ausstellungen präsentieren, am liebsten auf der ganzen Welt.
Zudem wird das Album diesmal komplett von einer jungen russischen Grafikdesignerin gestaltet sein. Nachdem ich die ersten Entwürfe gesehen habe, freue ich mich sehr auf einen ganz speziellen neuen russischen Look des Albums.

Flankiert ihr das tschutti heftli mit speziellen Aktionen?
Neben den oben erwähnten Ausstellungen wird es natürlich wieder die traditionellen Tauschbörsen geben. Und wer weiß was uns noch einfällt.

Wo können deutsche Fans das Sammelalbum und die Sticker beziehen?
Zum Verkaufsstart, also Anfang April werden wir eine Liste auf unseren Websites veröffentlichen. Also auf tschuttiheft.li und tschuttiheftli.de.

Einer weiteren Auflage für die Euro 2020 steht eigentlich nichts im Wege, oder?
Das entscheiden wir jeweils nach dem Abschluss des aktuellen Albums, also im Herbst 2018. Aktuell denken wir schon, dass wir es gerne weitermachen wollen.

Silvan, herzlichen Dank für Deine Antworten und viel Erfolg mit dem neuen tschutti heftli!


Meine Jahreswechsel-Interviews:

Ihr habt soeben mein diesjähriges Interview zum Jahreswechsel gelesen. In den vorangegangenen Jahren sprach ich mit:

  • 2016: Radiomoderatorin Christiane Falk (über grandiose Platten, musikalischen Einheitsbrei, potenzielle Stadionsongs und den SC Freiburg)
  • 2015: Ex-Bundesligaprofi Christian Demirtas (über seine Karriere, seine Zeit in Schweden und sich als Aramäer)
  • 2014: Sportfotograf Matthias Hangst (über seine Arbeit in Wimbledon, bei Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaften)
  • 2013: Fußballprofi Aytac Sulu (über seine Karriere und seinen Start beim SV Darmstadt 98)

Euch allen einen guten Start ins neue Jahr, das nach euren Vorstellungen verlaufen soll.

2 Gedanken zu “Interview: „Shaqiri hat seine Bildli lieber selber behalten.“

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