„Wir sind eine Mannschaft von Absteigern“

Aytac Sulu (Quelle: kickschuh.wordpress.com)

Aytac Sulu (Quelle: kickschuh.wordpress.com)

Aytac Sulu spielt seit einem Jahr für den SV Darmstadt 98. Der mittlerweile zum Kapitän aufgestiegene Innenverteidiger steht exemplarisch für den Aufschwung der Lilien. Im folgenden Interview spricht der 28-jährige über seine bisherige Karriere, seine turbulente Zeit beim SV 98 und warum er seinen Vertrag bei den Südhessen bis 2017 verlängerte.

Aytac, Du hast „erst“ mit 24 Jahren Dein Debüt in der 3. Liga und somit im Profifußball gegeben. Bist Du zuvor einem anderen Beruf nachgegangen oder hast Du von Anfang an auf die Karte Profifußball gesetzt?
Aytac Sulu: Ich habe während meiner Zeit beim Bahlinger SC eine Lehre zum Automobilkaufmann begonnen und diese dann nach meinem Wechsel zu Hoffenheims 2. Mannschaft abgeschlossen. In dem Beruf habe ich allerdings nie gearbeitet. Nicht zuletzt, weil ich in Hoffenheim nach einem halben Jahr zum erweiterten Kader der Profimannschaft zählte. Ich spielte zwar weiterhin in der Oberligamannschaft, saß allerdings in der 2. und später auch in der 1. Bundesliga einige Male auf der Ersatzbank. Mein Fokus lag also fortan auf dem Fußball.

Von Hoffenheim zog es dich nach Aalen und von dort in die türkische Süperlig. Anschließend gingst Du nach Österreich, bevor dich der SV Darmstadt 98 vor einem Jahr verpflichtete. Welche der Stationen hat dich am meisten vorangebracht?
Aytac Sulu: Am meisten geprägt hat mich die Zeit beim VfR Aalen. Wir stiegen 2010 in die 3. Liga auf und konnten 2011 trotz eines schlechten Saisonstarts die Klasse halten. In den beiden Jahren habe ich einen deutlichen Sprung in meiner Entwicklung gemacht. Ich war Stammspieler und wurde Kapitän. Da war mir klar, dass ich in den nächsten Jahren im Profibereich weitermachen kann und will. 

Du hast von Aalen den Sprung zu Genclerbirligi Ankara gewagt. Bist also aus Deutschlands 3. Liga in die türkische Eliteklasse gewechselt. Wie kam es dazu?
Aytac Sulu: Es war schon immer mein Ziel, den Schritt in die Türkei zu wagen. Mir lagen 2011 Angebote vor und ich war nach der guten Zeit in Aalen bereit für den Wechsel. Ich habe mich bewusst für Genclerbirligi entschieden, da dort bereits fünf weitere Deutsch-Türken unter Vertrag standen. Das hatte tatsächlich seine Vorteile. Wenn es etwa organisatorische Sachen zu regeln gab, dann konnte ich auf deren Hilfe zählen.

Wie lief es sportlich?
Aytac Sulu: Leider nicht so gut, wobei ich mir keine Vorwürfe machen kann. Ich habe alles gegeben, kam aber letztlich nur zu einem Kurzeinsatz. Ich denke, es lag daran, dass meine Spielweise doch ziemlich deutsch ist. Ich bevorzuge eine nüchternere Spielweise mit einer sachlichen Spieleröffnung. In der Türkei zählt aber ein Beinschuss oder das Verladen von zwei Gegenspielern immer noch mehr als ein gewonnener Zweikampf. Dennoch haben meine Frau und ich uns in Ankara und im Verein sehr wohl gefühlt. Die Türkei ist ein gastfreundliches Land und ich konnte sogar meinen Sprachschatz erweitern (lacht).

In Internetforen wird leidenschaftlich darüber diskutiert, wenn sich Deutsch-Türken für die eine oder eben für die andere Nationalelf entscheiden. Wie siehst Du die Debatte?
Aytac Sulu: Grundsätzlich finde ich es gut, dass es mittlerweile in der deutschen Nationalelf multikulturell zugeht. Die Entscheidung, für welches Nationalteam ein Deutsch-Türke aufläuft, ist sicher immer gut überlegt. Ich glaube, dass sich Mesut Özil und Ilkay Gündogan für den DFB entschieden haben, weil sie Weltstars werden wollen. Mesut hat das mittlerweile geschafft. Mit der deutschen Nationalmannschaft ist dies eher möglich als mit der türkischen.

Nach Deiner Saison in Ankara hast Du beim SC Rheindorf Altach in der zweiten österreichischen Liga angeheuert. Dort trafst Du wieder auf Rainer Scharinger, der dich bereits in Bahlingen, Hoffenheim und Aalen trainierte. Ein Indiz dafür, wie wichtig Netzwerke im Fußball sind?
Aytac Sulu: Kontakte oder Netzwerke sind im Fußball wie im richtigen Leben gut und machen vieles einfacher. Nach der Zeit in Ankara war für meine Frau und mich klar, dass nur ein Wechsel in ein deutschsprachiges Land infrage kam. Altach hatte sich schon vorher einmal um mich bemüht und auch die Stuttgarter Kickers, bei denen damals Dirk Schuster Trainer war, unterbreiteten mir ein Angebot. Letztlich machte Altach das Rennen. 

Der Leader der „Sulu-Nation“: Lilien-Kapitän Aytac Sulu neben einer Aufnahme aus Darmstädter Bundesligazeiten (Quelle: M.Kneifl)

Der Leader der „Sulu-Nation“: Lilien-Kapitän Aytac Sulu neben einer Aufnahme aus Darmstädter Bundesligazeiten

Welche Faktoren gaben im vergangenen Winter den Ausschlag für Deinen Wechsel zu den Lilien, dem damals schlechtplatziertesten Profiklub Deutschlands?
Aytac Sulu: Ich habe in Altach viel gespielt, wir haben uns dort aber nicht so wohlgefühlt. Zudem war mittlerweile unsere Tochter auf der Welt und auch die Großeltern sollten etwas von der Kleinen haben. So lag ein Umzug in die Nähe von Heidelberg auf der Hand. Als sich dann Dirk Schuster, der mittlerweile in Darmstadt unterschrieben hatte, erneut bei mir meldete, mussten wir nicht lange überlegen. 

Am letzten Spieltag habt ihr die Stuttgarter Kickers zum Abstiegsendspiel empfangen. Ihr musstet gewinnen, den Kickers reichte ein Remis. Letztlich habt ihr nur 1:1 gespielt. Wie hast Du das Spiel in Erinnerung?
Aytac Sulu: Auf den Tag hatten wir ein halbes Jahr lang hingearbeitet, denn wir wollten unser Schicksal am letzten Spieltag in der eigenen Hand haben. Es war ein geiles Gefühl in ein volles Stadion einzulaufen. Der frühe Rückstand spielte uns natürlich nicht in die Karten und unser Ausgleich fiel recht spät. In der Schlussphase traf Elton (da Costa, Anm. d. Red.) noch den Pfosten und ein Kopfball von mir ging an die Latte. Es waren letztlich Millimeterentscheidungen, die den Ausschlag gaben. Nach dem Spiel habe ich mich so schlecht wie noch nie gefühlt. Und das, obwohl ich ja erst relativ kurz im Verein war. Von den Fans gab es keine Pfiffe. Sie haben gesehen, dass wir alles versucht haben. Da hätte es in anderen Vereinen sicher ganz andere Szenarien gegeben. Es war also eine Basis da, auf der wir nach dem Lizenzentzug für Offenbach aufbauen konnten.

Nach dem am grünen Tisch abgewendeten Abstieg schwimmt ihr in Liga 3 auf einer Erfolgswelle und überwinterte zuletzt auf Rang 3. Was ist passiert?
Aytac Sulu: Das alles ist ohne die letzte Saison nicht zu verstehen. Wir sind eine Mannschaft aus Absteigern! Die letztjährigen Spieler waren sportlich abgestiegen, die im Sommer verpflichteten wurden von ihren Vereinen weggeschickt. So etwas will keiner von uns noch einmal erleben. Unser Spirit stimmt, der Wille ist da. Wir gehen immer an unsere Leistungsgrenze, auch wenn es in Regensburg oder Burghausen schwächere Spiele gab. Aber die waren die absolute Ausnahme. Unser Trainer sagt immer, wenn wir 100 Prozent geben, dann sind wir in dieser Liga schwer zu schlagen. Und unser positiver Lauf in der ersten Saisonhälfte gibt ihm Recht.

Mit der aktuellen Saison bist Du zum Kapitän bestimmt worden. Auch in Aalen warst Du schon Spielführer. Wie interpretierst Du diese Rolle?
Aytac Sulu: Privat bin ich eher zurückhaltend, auf dem Platz hingegen lautstark. Das bringt die Position des Innenverteidigers mit sich. Grundsätzlich will ich als Kapitän eine Vorbildrolle einnehmen, auch abseits des Platzes. Ich achte darauf, dass jeder im Team den anderen akzeptiert und die Stimmung gut ist. Schließlich haben wir einen Kader von über 20 Spielern, von denen natürlich nicht alle so zum Zug kommen, wie sie es gerne möchten. Auf dem Spielfeld greife ich zudem dann ein, wenn Unmut gegenüber Mitspielern aufkommt. Etwa wenn einer sein Defensivverhalten nicht im Sinne des anderen erledigt.

Du hast kurioserweise Aalen und die Lilien im DFB-Pokal gegen Schalke 04 aufs Feld geführt. Wann war eher die Sensation drin?
Aytac Sulu: In beiden Spielen war die Sensation drin! Mit Aalen haben wir durch zwei blöde Gegentore 1:2 verloren. Zudem mussten wir 70 Minuten in Unterzahl spielen. Gegen die Lilien hat Schalke von Beginn an unheimlich viel Druck gemacht. Wir haben den Gegentreffer nach einer halben Stunde schnell ausgeglichen und waren danach gut im Spiel. Ich hadere heute noch mit mir, dass ich gegen Ende nicht das 2:2 gemacht habe.

Welcher Gegenspieler hat Dir in den beiden Partien am meisten imponiert?
Aytac Sulu: Jefferson Farfan war beide Male ungemein stark und gegen die Lilien speziell noch Max Meyer. Der Junge hatte gefühlte 500 Ballkontakte und hat keinen einzigen Ball verloren.

Die Lilien haben sich nicht zuletzt durch Deine Präsenz defensiv enorm gesteigert. 31 Gegentore in 37 Spielen mit Dir. Zuvor alleine 34 in 21 Spielen der Hinrunde 2012. Dabei ist außer wechselnden Rechtsverteidigern und Dir der Defensivverbund unverändert geblieben. Wer ist letztlich mehr verantwortlich für diese Entwicklung. Du oder Dirk Schuster?
Aytac Sulu: Dazu hat der Trainer sicher mehr beigetragen. Ich mag eine Stellschraube im System sein, die er geholt hat, weil er erkannte, wie ich der Mannschaft helfen kann. Letztlich arbeitet aber das gesamte Team hervorragend nach hinten. Ich halte zum Beispiel unseren Jérôme Gondorf für den giftigsten Gegenspieler in der Liga und „Toni“ Sailer rennt sich vorne beständig die Lunge aus dem Leib.

Beide zählen zu den zahlreichen Sommer-Neuzugängen, die zu Leistungsträgern wurden. Viele der Neuen bringen ähnliche Eigenschaften mit wie Du: aggressiv, diszipliniert, laufstark, balltechnisch gut. Wirst Du bei Transferfragen einbezogen?
Aytac Sulu: Nein, da bin ich außen vor. Bestenfalls fragt mich unser Co-Trainer Sascha Franz, ob ich einen bestimmten Spieler kenne. Das war es aber auch schon. Die bisherigen Transfers waren absolute Glücksgriffe und beweisen, dass der Trainer Ahnung hat. Was den Spielertyp anbetrifft, so mag er ganz sicher keine Diven. Sollte ein Spieler es einmal ein wenig lockerer angehen, dann unterbindet er das sofort rigoros. Ganz egal, ob er Aytac Sulu oder Dominik Stroh-Engel heißt. Für ihn steht der Erfolg des Teams an erster Stelle. Ihm ist es nicht wichtig, ob wir die beste Abwehr haben oder den besten Torjäger. Er sieht die Lilien auch nicht als SV Schuster. Der Teamerfolg steht bei ihm über allem und das haben wir verinnerlicht.

In der Hinrunde unterlagt ihr unglücklich RB Leipzig. Für viele aktive Fans ist der Klub ein rotes Tuch. Das haben auch die Lilien-Fans deutlich gemacht. Kannst Du Dich mit der Haltung der Fans identifizieren oder siehst Du das als Profifußballer ein wenig differenzierter?
Aytac Sulu: Ich kann die Haltung der Fans verstehen, die ihren Verein mit viel Herzblut unterstützen, wie es bei uns der Fall ist. Allerdings werden wir auch zukünftig Vereine sehen, deren finanziellen Möglichkeiten deutlich über denen der anderen liegen. Und viele Klubs würden sich vermutlich nicht beschweren, wenn sie plötzlich über solche Mittel verfügen würden wie Leipzig, die mal eben 600.000 Euro für einen Spieler locker machen können. Es gibt eben immer zwei Seiten der Medaille.

Aus letztjährigen Interviews war herauszulesen, dass Du gerne noch einmal höherklassig spielen würdest. Das wäre angesichts Deiner Leistungen doch durch einen Wechsel im Sommer ein Leichtes gewesen. Auch hier in der Region. Was hat Dich dazu bewogen in Darmstadt um drei Jahre zu verlängern?
Aytac Sulu: Ich habe im Laufe meiner Karriere ja schon in mehreren Vereinen gespielt und ich schätze hier im Klub die sehr familiäre Atmosphäre. Ich fühle mich wohl und sehe, dass der Verein einen Weg eingeschlagen hat, den ich gerne mitgehen möchte. In unserem Team bildet sich gerade eine Achse heraus, zu der ich meinen Teil beitragen will. Zudem ist ein Aufstieg mit Darmstadt in den nächsten Jahren nicht unmöglich und wäre ein tolles Erlebnis. Hier in Darmstadt entsteht gerade etwas. Der Verein ist gesund, wirtschaftet solide und entwickelt sich nicht überstürzt, sondern Schritt für Schritt.

Ihr seid bislang die positive Überraschung der Liga. Was müsste passieren, damit die aktuelle Spielzeit für Dich noch zu einer Enttäuschung würde?
Aytac Sulu: Eine Platzierung um Rang 14 oder 15, also ein kompletter Einbruch, wäre vollkommen enttäuschend. Das Ziel sollte es sein, die Saison nicht schlechter als auf Platz 10 zu beenden.

Vielen Dank Aytac, dass Du Dir die Zeit für das offene Gespräch nehmen konntest und weiterhin viel Erfolg.

4 Gedanken zu “„Wir sind eine Mannschaft von Absteigern“

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